Dorfbürgermeister im Bahnhofsviertel

IharaSaikaku · 4. November 2010

Oskar Mahler ist der Präsident des Gewerbevereins. Aber auch Hausmeister, Bildhauer, Museumsdirektor und Geschichtenerzähler mit einer großen Mission: das Image seines verrufenen Viertels zu verbessern.
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Von David Klaubert, Frankfurt
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Über eine schmale, rostige Leiter klettert Oskar Mahler hinauf zu seinem Lieblingsort, gefolgt vom Wirtschaftsdezernenten der Stadt und dessen Beamten-Tross. Von der letzten Sprosse steigt Mahler auf eine steile Dachschräge, macht fünf, sechs lockere Schritte, dann steht er oben auf dem Giebel, gut 25 Meter über der Kaiserstraße, die Hände in den Taschen seiner schlichten, schwarzen Anzughose. Die Beamten balancieren vorsichtig hinterher.

Mahler, ein hagerer Kerl mit Lesebrille auf der Halbglatze, lächelt zufrieden und schaut über das Dächermeer. Am Horizont sieht er die sanften Kurven des Taunus, davor wie riesige Zaunlatten die Hochhäuser, und direkt unter ihm grummelt und brummt das Bahnhofsviertel – der spannendste Ort Europas, sagt Mahler, ein Ort voller Poesie.

„Nur noch Dirnen, Dreck und Drogen!“

Seit vier Jahren lebt Oskar Mahler im Bahnhofsviertel, er arbeitet dort als Hausmeister, ist Direktor des einzigen Museums, Gründer und Präsident des Gewerbevereins, Stadtteilbildhauer und Geschichtenerzähler mit einer großen Mission: das Image des Bahnhofsviertels zu verbessern. Mission? „Nein“, sagt Mahler, „ich bin ja nicht die Bahnhofsviertelmission und ich bin auch kein Missionar. Ich will niemanden bekehren, ich will nur das Vorhandene sichtbar machen.“

Das Bahnhofsviertel: Vielen fällt dazu nicht mehr ein als die immer gleichen Schlagworte, die „Bild“-Zeitung posaunt in großen Buchstaben: „Nur noch Dirnen, Dreck und Drogen!“ Der Ordnungsdezernent der Stadt warnt Besucher vor der Frankfurter „Bronx“ und rät Reisenden, die nachts am Hauptbahnhof ankommen: „Schnell zum Taxi und dann weg.“ Oskar Mahler sagt: „Früher hatte ich die gleichen Vorurteile. Jetzt ist es aber an der Zeit, dass neue Geschichten über das Viertel erzählt werden.“

Schattenseiten des Erfolgs

Oben auf dem Dach des wuchtigen Altbaus an der Kaiserstraße erzählt Mahler dem Wirtschaftsdezernenten seine neueste Geschichte. Er zeigt hinüber zum Hauptbahnhof, wo sich etwa in gleicher Höhe eine blasse, grüne Gestalt unter der Last einer Weltkugel krümmt, flankiert von zwei nackten Jünglingen. Atlas, unterstützt von Elektrizität und Dampf, sagt Mahler, eine Skulptur des Bildhauers Gustav Herold, 120 Zentner schwer, ein wichtiges Stück Frankfurt, das kaum einer wahrnehme und das dringend aufpoliert werden müsse. „Warum restaurieren wir die Skulptur nicht auf dem Bahnhofsvorplatz? Das wäre eine große Touristenattraktion“, sagt er. Der Wirtschaftsdezernent nickt viel und verspricht, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen.

Hansgeorg Eugen Oskar Mahler stammt nicht aus Frankfurt, sondern vom Land: Geboren wird er 1952 als Sohn eines Psychoanalytikers und einer Übersetzerin im bayrischen Straubing, in einem Dörfchen bei Heidelberg wächst er auf. Doch schon mit 17 Jahren zieht es ihn in die Stadt, zunächst nach Paris, dann nach Frankfurt. Er studiert Kunstpädagogik und Gestalttherapie, arbeitet als Bildhauer und macht eine Ausbildung zum Puppenspieler. Mit 23 gründet Hansgeorg Mahler dann in Frankfurt das Klappmaul-Theater und erzählt auf der Bühne seine ganz eigenen Geschichten. Kasperl und Seppel treten bei ihm nicht auf, seine Helden sind andere: Das Kissen Siggi macht sich auf „Die Reise zum Mittelpunkt des Sofas“, andere Stücke heißen „Ein Frosch lernt fressen“ und „Die Nähmaschine“. Mit ihren außergewöhnlichen Puppen zieht die Truppe durch ganz Deutschland, mehrere Inszenierungen werden fürs Fernsehen verfilmt, Mahler wird unter anderem mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet. Doch der Erfolg hat Schattenseiten: Tausende von Kilometern ist Mahler jedes Jahr auf Tour, nirgends wirklich zuhause. Der Puppenspieler beginnt zu trinken, irgendwann sind es zehn, fünfzehn Flaschen Bier am Tag; ohne es zu merken, verliert er langsam den Boden unter den Füßen. „Das war wie ein Geisterfahrer-Syndrom“, sagt Mahler heute. „Alle Leute um mich herum waren komisch, nur ich habe nicht gemerkt, dass ich selbst ein Problem hatte. Ich war einsam in der Menge – immer umgeben von Menschen, aber ohne wirklich Kontakt mit ihnen zu haben.“

Man hilft sich gegenseitig

Als Mahler sein Alkoholproblem dann doch erkennt, beschließt er, ein neues Leben anzufangen: Er nennt sich nicht mehr Hansgeorg, sondern Oskar, trinkt keinen Schluck Alkohol mehr – und auch mit dem Puppentheater hört er wenig später auf. Genau drei Jahrzehnte und einen Tag nach der ersten Aufführung schließt das Klappmaul-Theater im Frühjahr 2005. Mahler will weg aus Frankfurt, am liebsten nach Belfast in Nordirland, doch dann verschlägt ihn ein Zufall ins Bahnhofsviertel: An der Tür seiner Wohnung im Ostend findet Mahler eine Zeitungsanzeige, die ein Nachbar dorthin geheftet hat. Ein Schuhmacher sucht in der Annonce einen Künstler, der in seinem Laden ausstellen möchte. Mahler denkt an die unzähligen Hämmer, die sich im Lauf der Zeit in seinem Bildhaueratelier angesammelt haben und für die er schon länger einen Ausstellungsort sucht. Er fährt in die Münchener Straße und besucht den Schuhmachermeister Wolfgang Lenz. Zehn Minuten reden die beiden, dann sind sie sich einig, und Mahler richtet im Obergeschoss der Schuhmacherei ein Hammermuseum ein.

„Fast jeder Mensch hat eine Geschichte, die er mit einem Hammer verbindet“, sagt Mahler. „Und jeder Hammer erzählt eine Geschichte.“ Rund 1000 hängen und liegen mittlerweile in der Schuhmacherei, vom kleinsten Hammer der Welt über einen Glashammer bis hin zum Erbstück von Mahlers Urgroßvater Christian. Als Gegenleistung dafür, dass er den Ausstellungsraum nutzen darf, bringt Mahler seine Ideen in das kriselnde Schuhmacher-Geschäft ein. Er entfernt die knallbunten Werbeaufkleber, die die hohen Schaufenster verdecken, bringt schlichte, goldene Buchstaben an, legt einen roten Teppich hinter die Tür – und schreibt die Geschichte des Handwerksbetriebs auf.

Obwohl die Realität besser wurde, blieb das Image schlecht

Am 1. November 1941 eröffnen die Eltern von Wolfgang Lenz die Schuhmacherei an der Münchener Straße. Das Bahnhofsviertel, einst als Geschäftsviertel zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt gebaut, beherbergt damals noch viele Händler und Handwerker – Seit’ an Seit’ mit Kinos, Theatern, Nachtlokalen und Kaschemmen. Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg lässt auch das Handwerk florieren, in den sechziger Jahren werden bei Lenz bis zu 1000 Paar Schuhe am Tag repariert. Vor allem die leichten Mädchen, die im Bahnhofsviertel auf- und abstöckeln, kommen regelmäßig vorbei, um sich ihre abgebrochenen Absätze wieder ankleben zu lassen. Doch dann machen sich windige Unternehmer und Banden im Milieu breit, die Mädchen verschwinden in billig eingerichteten Etablissements, die Kriminalität im Viertel steigt. Und nach dem Bau der U- und S-Bahn Ende der siebziger Jahre bleiben auch die Kunden der Händler und Handwerker weg: Anstatt vom Hauptbahnhof an den Geschäften vorbeizuflanieren, rauschen sie nun zu Tausenden unterm Bahnhofsviertel hindurch. Viele traditionelle Betriebe schließen, und auch für die Schuhmacherei Lenz brechen schwere Zeiten an.

Als Oskar Mahler dann im Sommer 2005 bei Lenz auftaucht, hat sich im Bahnhofsviertel schon einiges wieder zum Besseren gewandt: Die bröckelnden Fassaden vieler Häuser werden saniert, die Drogensüchtigen können sich in Fixerstuben zurückziehen, Reinigungstrupps und Polizisten streifen durch die Straßen – doch das schlechte Image des Viertels ist geblieben.

Seine Bühne ist jetzt das Bahnhofsviertel

Mit dem Hammermuseum und indem er den Laden umgestaltet, gelingt es Mahler trotz allem, neue Kunden in die Schuhmacherei zu locken. Schon nach kurzer Zeit steigt der Umsatz. „Das Angebot in der Schuhmacherei war schon vorher perfekt“, sagt Mahler. „Ich habe nur die Wertigkeit des Handwerks sichtbar gemacht.“

Andere Geschäftsleute werden auf Mahler aufmerksam: die Dame aus dem gut hundert Jahre alten Schreibwarengeschäft gegenüber, ein türkischer Friseur um die Ecke, der Chef einer verrauchten Kneipe. Mahler entwirft Broschüren und schreibt kurze Porträts der Menschen und ihrer Betriebe. Der ehemalige Puppenspieler hat wieder eine Aufgabe, er erzählt neue Geschichten. Seine Bühne ist jetzt das Bahnhofsviertel.

„Vom Bahnhof im ersten Haus rechts, da bin ich“

Mahler sagt, unter der Lupe betrachtet zerfalle Frankfurt in viele kleine Dörfer: Sachsenhausen, Bornheim, Bockenheim – das einzige großstädtische Viertel seien die 0,5 Quadratkilometer vorm Bahnhof. Die urbane Architektur stecke voller versteckter Geschichten, dazu Menschen von überall her. Minderheitenprobleme, meint Mahler, gebe es im Bahnhofsviertel eigentlich nicht, weil alle, selbst die Deutschen, Minderheiten seien. Vielleicht habe das Quartier gar nichts aufzuholen, vielleicht sei das ja auch die Zukunft.

Bald nach der Eröffnung des Hammermuseums zieht Mahler selbst ins Viertel, zunächst in eine billige, heruntergekommene Wohnung, die er sich mit Kakerlaken teilt. Dann bewirbt er sich als Hausmeister bei einer Gesellschaft, der mehrere gut sanierte Altbauten im Bahnhofsviertel gehören. Mahler bekommt den Job und eine Dienstwohnung an der Kaiserstraße. „Jetzt bin ich an einem Ort, wo die Menschen jederzeit zu mir kommen können“, sagt er. „Vom Bahnhof im ersten Haus rechts, da bin ich. Und ich weiß nicht warum, aber hier gehöre ich hin.“

Blick übers Viertel

Tag für Tag ist Mahler nun in seinem Viertel unterwegs, besucht die Menschen, bringt sie zusammen. Im Frühjahr 2007 gründet er den ersten Gewerbeverein im Bahnhofsviertel, zusammen mit Schuhmacher Lenz, Frau Fleischhauer aus dem Schreibwarengeschäft, Mister Sam, dem sri-lankischen Direktor zweier Hotels, einem Café- und einem Hostel-Besitzer und den Inhabern von „Cream Music“, einem alten Musikgeschäft, in dem einst Elvis Presley eine Gitarre kaufte. Die Geschäftsleute treffen sich, schildern Politikern ihre Schwierigkeiten, regen unter anderem die Bahnhofsviertelnacht an, die mittlerweile jedes Jahr Tausende Frankfurter in die Geschäfte und Einrichtungen rund um den Bahnhof lockt. Mahler organisiert Kunstausstellungen, zeigt eigene Skulpturen – und verleiht sich dafür selbst den Titel „Stadtteilbildhauer“. Er entwirft Broschüren und eine Internetseite, führt Politiker durchs Viertel, hat immer neue Einfälle, aus denen manchmal etwas wird, in denen er sich manchmal verzettelt.

„Oskar hat Riesen-Ideen, er hat verrückte Ideen“, sagt Schuhmacher Lenz. „Er denkt in anderen Dimensionen, weil er keine geschäftlichen Interessen verfolgt. Es wäre schön, wenn wir Oskar als Politiker fürs Bahnhofsviertel engagieren könnten – als unseren Dorfbürgermeister.“

Vorerst muss Oskar Mahler sein Geld aber weiterhin als Hausmeister in der Kaiserstraße 79 verdienen. Doch auch dieser Beruf hat Vorteile: Als einziger hat Mahler einen Schlüssel, um aufs Dach des Altbaus zu gelangen. Und abends, wenn er genug hat vom bunten Trubel im Bahnhofsviertel, wenn er seine Ruhe braucht, kann ihn dort oben niemand stören. Er balanciert dann über den Giebel, ganz nach vorne, direkt gegenüber vom Hauptbahnhof, setzt sich für eine Zigarette auf den steinernen Kamin. Und lauscht zufrieden dem Grummeln seines Bahnhofsviertels.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Nora Klein
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Finde den Bericht wirklich gut.

Das es das Hammermuseum gibt wusste ich, auch dass in der Schuhmacherei Lenz ein Künstler sein Unwesen treibt.

Die Zusammenhänge so schön beschrieben zu erfahren fand ich dann aber wirklich nett.

tapir · 4. November 2010

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ekztiw · 4. November 2010

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ekztiw · 4. November 2010

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LatinaHausFrauenFicker · 6. November 2010

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