Ernst May-Ausstellung in Frankfurt

IharaSaikaku · 18. August 2011

Das DAM gönnt nach Martin Elsässer nun auch Ernst May eine eigene Ausstellung. Beide verbindet man mit dem "Neuen Frankfurt".

Er war monströs, aber auch schönheitshungrig: Das Frankfurter Architekturmuseum zeigt das ganze Können des großen Architekten Ernst May und erzählt aus seinem spannenden Leben. So haben wir ihn noch nie gesehen.

Vergessen Sie alles, was Sie über Ernst May gehört haben. Oder besser: Vergessen Sie alle gloriosen Formeln vom genialen Schöpfer des Neuen Frankfurt und Sozialutopisten. Legen Sie auch das gänsehautige Bild vom fleischgewordenen rechten Winkel beiseite, der weder Kurve noch Welle duldete. In der reich mit Modellen, Plänen, Zeichnungen und Fotografien bestückten Werkschau des Deutschen Architekturmuseums (DAM) wartet ein Unbekannter, ein Mann mit einem Leben, dessen Wenden, Höhen und Tiefen für drei gereicht hätten.

Wer beispielsweise hätte dem Schöpfer der kahlen Wohnbataillone der Siedlung Westhausen in Frankfurt (1929) einen derart swingenden Großbau zugetraut wie das Kenwood House in Nairobi? 1937, nach drei öden Jahren als Tabakfarmer im afrikanischen Exil, hatte Ernst May dort ein Büro eröffnet und war rasch zum Architekten britischer Kolonialherren geworden.

Schon die Villen, die er ihnen in gepflegtes Grün setzte, erstaunen mit herrlichen Natursteinwänden und schmiegsamen Steildächern als blendend elegante Mischung aus Arts and Crafts und Afrikanik. Doch das fünfgeschossige Geschäfts- und Wohnhaus Kenwood im Zentrum Nairobis, dessen Fassade aus Halbzylindern, die mit Natursteinbrüstungen gegürtet und von vorkragenden Sonnensegeln rhythmisiert sind, wirkt wie die chorus line eines Afrikamusicals von Gershwin, ist als „Tropenmoderne“ den extravagant schwingenden Bauten Oscar Niemeyers oder Frank Lloyd Wrights ebenbürtig.

Märchenhafte Selbsthilfehäuser

Locker, wie man es dem Zuchtmeister der Moderne in Frankfurt oder Nowosibirsk nie zugetraut hätte, arbeitete dieser May. Dann aber, wieder ganz Massendirigent, entwirft er 1945 der britischen Protektoratsregierung einen Erweiterungsplan für Kampala. „Drei Ethnien auf zwei Hügeln“ ist im DAM das Projekt überschrieben, das Raum bieten wollte für Europäer, Asiaten und Afrikaner - separate Wohn- und Geschäftsviertel mit Schulen, Kliniken samt Golf- und Sportplätzen für die gehobenen und Schrebergärten für die schlichten Viertel. Der afrikanische Teil sah „Nachbarschaften“ von je fünfhundert Familien vor.

Was (fragmentarisch) realisiert wurde, förderte Gettoisierung anstatt Gemeinschaft. Trotzdem blieb Ernst May unbeirrt: „Der Bürger braucht die Nachbarsfrau“, antwortete er 1955 dem „Spiegel“, der den Heimkehrer als Planungsleiter der Neuen Heimat Hamburg und ihrer uniformen Großsiedlungen vorstellte. War May also doch der verkappte Herr der Endloswaben für Arbeitsbienen geblieben, der Dompteur, der 1927 als Baudezernent Frankfurts erklärt hatte, die „Wohnsiedlung unserer Tage“ mache wie „Bienenwaben die Summe gleicher Elemente aus“?

Man wäre verblendet, würde man anderes in Mays späten Trabantenstädten Neue Vahr Bremen (1965), Wiesbaden-Klarenthal (1969) oder Darmstadt-Kranichstein (1970) sehen wollen. Und doch, dies lehrt die Werkschau in Frankfurt, steckt selbst noch im Schöpfer dieser Monstrositäten der schönheitshungrige Architekturdebütant von 1904, der schwankte, ob er Künstler oder Baumeister werden solle: 1945 beispielsweise, mit 59 Jahren und sämtlichen Erfahrungen, die er in Frankfurt und der Sowjetunion mit Plattenbau gemacht hatte, entwarf er in Nairobi Prototypen für Einfamilienhäuser. Doch die vorfabrizierten Betonelemente zitieren ostafrikanische Grashütten - und ähneln den sonderbar märchenhaften Selbsthilfehäusern, die May 1919 als blutjunger Leiter der „Schlesischen Heimstätte“ für Flüchtlingsmassen im verwüsteten Oberschlesien entwickelt hatte.

Soldatenfriedhöfe und Ehrenmale“

Geformt wie tröstende Biedermeier- und Jugendstildächer, die direkt auf dem Baugrund aufsetzen, spiegeln diese Notbehausungen Ernst Mays Londonaufenthalt, wo er 1910 die englischen Gartenstädte bewunderte - und die Neigung zu bergenden Idyllen, wie sie den Besucher aus Mays frühen Skizzenbüchern anweht, in denen er 1910 fast andächtig die malerischen Altstadtgassen Frankfurts festhielt.

Diesen Romantiker zeigt auch sein Hochzeitsfoto von 1919. Mit Vatermörderkragen und weichem Wollsakko schaut er verliebt auf seine (zweite) Frau Ilse, die ihrerseits mit niedergeschlagenen Augen nicht Kranz und Schleier trägt, sondern ein modisches Reformkleid, das die Roben der Zeit um 1800 imitiert. Das Paar wirkt wie auf einem Gemälde Caspar David Friedrichs, der elegischen Künstlerkolonie Worpswede oder Fritz Langs Stummfilm „Der müde Tod“ von 1921 entstiegen. Analog dazu erinnern Mays phosphoreszierend bunte, flackernd gestrichelte Skizzen für seine Siedlung Königszelt (1922) an die Plakatbauten aus Robert Wienes Caligari-Film (1920). Der Architekt verinnerlichte also die Kultur seiner Zeit, war sensibel und im Rahmen seiner großbürgerlichen Herkunft - er war der Sohn eines Frankfurter Lederfabrikanten - sozial engagiert. So entwarf er in Frankfurt einerseits blitzend reiche, säulengesäumte Villen als glänzende Synthesen aus maßvoll monumentaler Neoantike und noblem Neobiedermeier, schuf aber 1914 auch ein elegantes, fast schlossartiges Arbeiterinnenheim im Ostend, dem tristen Industrieviertel der Stadt.

Umso verblüffter liest man den Aufsatz über das zerstörte Lille, den May 1916 als Soldat in den „Illustrierten Blättern“ veröffentlichte und zu dem er eigene Zeichnungen beisteuerte: Die deutschen Truppen, so schwärmt er, hätten ihre Bombardements „auf das unbedingt Notwendige beschränkt“. Wie aber die Feinde „mit ihren afrikanischen Horden gehaust hätten“, wenn „grenznahe Städte“ wie Frankfurt oder Aachen erobert worden wären, mag er „sich gar nicht erst vorstellen“. In dieser Zeit entwirft May Soldatenfriedhöfe und Ehrenmale in Polen, Rumänien und Frankreich. Viele sind ergreifend schlicht, doch schaudern lässt eine private Skizze mit einem nackten zyklopischen Steinwürfel, der auf Hunderten gleich Ameisen wimmelnden gesichtslosen Landsern lastet.

Geborgenheit trotz Sachlichkeit

Sechs Jahre später wechselt derselbe Mann als entschieden dem Marxismus zuneigender Architekt als Baudezernent von Breslau nach Frankfurt. Die Welt kennt seine dortigen Verdienste, seine Trabantenstädte (Idee und Begriff fasste er in Schlesien), die bis heute begehrte Wohnviertel sind.

„Kuriert die Stadt nach seiner Art, gibt ihr ein neues Konterfei. Bewundernd, leis mit Schreck gepaart, begrüßt Neu Frankfurt seinen - May“, schrieb die „Frankfurter Zeitung“ zum Amtsantritt. Er und seine ungestümen jungen Assistenten aber zerstreuten bald die Ängste: Siedlungen wie die in der Bruchfeldstraße, wo die kühne Schraffur gestaffelter Wohnhäuser mit Flachdach (bis heute spöttisch-liebevoll „Zickzackhausen“ tituliert) hufeisenförmig einen üppig begrünten Innenhof umgab wie Barockschlösser den Cour d'honneur, weckten Bewunderung. Ebenso die sanft in und auf einen Hügelrücken terrassierten Reihenhäuser und Wohnzeilen der Römerstadt oder des Bornheimer Hangs sowie die geschickt Intimität und Öffentlichkeit verbindenden Laubenganghäuser seiner Großstadtzeilen im Gallusviertel. Das Neue Frankfurt überzeugte mit Vielfalt in der Einheit, Geborgenheit trotz Sachlichkeit. Feinde machte May sich eher mit dem Wüten gegen die Altstadt, deren Häuser ihm nun „faule gotische Zähne“ waren, die er ziehen müsse.

„Wofür soll man streben, wenn das Honorar nicht wär?“

Der jähe Sturz überraschte May und sein Büro auf dem Höhepunkt sozialer Verantwortlichkeit: Am 29. Oktober, dem Schwarzen Freitag der Weltwirtschaftskrise, eröffnete in Frankfurt der Kongress des CIAM (Congrès International d'Architecture Moderne). Zentralthema: die „Wohnung für das Existenzminimum.“ Was die Ökonomie bitter notwendig machte, denunzierten rechte Fanatiker als Bolschewismus; 1930 nahm May das Angebot der Sowjetunion an, oberster Stadtplaner zu werden.

Dass er dort mit seinem Ideal einer Individuum und Masse ausgleichenden Architektur, aber auch mit seiner Egozentrik scheitern musste, bezeugt das Gedicht, das ihm Martin Elsässer, einer seiner erfolgreichsten Mitarbeiter, zur Abschiedsfeier als Mixtur aus Brechts „Mackie Messer“ und dem „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ schrieb. Nach dem Mackie-Messerischen Beginn „doch die Dächer sieht man nicht“ wird „Frankfurts strenger Mussolini“ direkt angesprochen: „Denn für deutsches Leben ist der May ja viel zu vif. Und sein ganzes Streben geht aufs Kollektiv.“ Vielleicht das komfortable eigene Haus Mays - eine Wohnung für das Existenzmaximum - vor Augen, fuhr Elsässer fort: „Doch fürs eigne Leben passt das Kollektive schwer. Wofür soll man streben, wenn das Honorar nicht wär?“

Ernst May nahm weder diese noch spätere Spötteleien übel. Im Alter war er vielleicht auch so unerreichbar geworden, wie ihn im DAM der pharaonisch entrückte, grimmige Alterskopf aus Bronze zeigt. Wie auch immer, nach dieser Ausstellung ist uns der Architekt May mit seinen Höhen und Tiefen tausendmal näher als der bisherige hehre Säulenheilige des Neuen Bauens.

Ernst May, 1886-1970. Neue Städte auf drei Kontinenten. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt. Bis 6. November. Der Katalog kostet 39 Euro.
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